Berliner Theater- und Literaturkritiker 1870 - 1938 1870 - 1938

Margarete Eloesser

 

„Eine besondere Anlage besitze ich in künstlerischer Hinsicht. Es sind lyrische Gedichte von mir in der Vossischen Zeitung und anderen Zeitschriften veröffentlicht, auch Märchenstücke für Kinder wurden von mir verfasst und mit gutem Erfolg aufgeführt. Diese Tätigkeit werde ich auch in Montevideo fortsetzen.“

Diese Auskunft über das eigene literarische Schaffen enthält der Lebenslauf[1], den Margarete Eloesser am 24. Juni 1939 in der Hoffnung niederschrieb, ihrer 1937 nach Uruguay emigrierten Tochter Elisabeth, deren Ehemann, dem Rechtsanwalt  Hermann P. Gebhardt und der kleinen Enkelin Irene baldmöglichst nachfolgen zu können. Die Hoffnung der Berliner Jüdin, ihre lebensbedrohlich gewordene Heimat verlassen zu können, sollte sich in den folgenden zwei Jahren immer wieder zerschlagen, an der Willkür der Behörden, wegen des fehlenden Geldes, das bei der uruguayischen Botschaft als Bürgschaft zu hinterlegen war. Aber dennoch gab Margarete Eloesser ihren Kampf nicht auf. „Grete ist nach wie vor stark mit ihrer Ausreise beschäftigt, ohne sonderliche Fortschritte zu machen. Aber vielleicht kommt es doch mal dazu“, schreibt die Schwägerin Fanny Levy am 14. September 1941 in einem Brief an ihre Nichte Edith Munter in São Paulo. Fünf Wochen später gab es dann keine Chance mehr zu entkommen: Am 23. Oktober 1941 unterbindet das Reichssicherheitshauptamt die Auswanderung von Juden durch ein allgemeines Ausreiseverbot. Bereits kurz vor diesem Verbot werden am 18. Oktober 1941 die ersten Juden aus Berlin deportiert. Drei Monate später befindet sich Margarete Eloesser unter den 1000 Berliner Juden, die am 25. Januar 1942 mit dem „10. Osttransport“ vom Bahnhof Grunewald aus nach Riga deportiert werden.

Nach der Deportation und dem Gang ins Martyrium ihrer grausamen Ermordung wurde die letzte kleine Wohnung Margarete Eloessers von den Behörden konfisziert; ihr persönlicher und schriftlicher Nachlass muss als verschollen gelten. Außer einigen in der Vossischen Zeitung abgedruckten Gedichten ist von ihren lyrischen Arbeiten bislang nichts bekannt geworden. Die bislang gefundenen Gedichte lassen aufhorchen, berühren mit der ihnen eigenen Stimme, ihrer Klage über die Auflösung der Grenzen zwischen Innen und Außen, von Seele und Welt und der Entschlossenheit, eine Form zu finden, die der Überwältigung ins Ausdruckslose und den Tod standhält.

 

Elternhaus und Schule

Geboren wurde Margarete Eloesser als Tochter von Sophie und Philipp Nauenberg am 13. Mai 1881 im Haus Alexanderplatz Nr. 1. Berlins zentraler Knotenpunkt war damals dicht besiedelt und von  bürgerlichen Wohnhäusern umgeben. Beide Eltern waren noch als Kinder aus Czarnikau (Provinz Posen) nach Berlin gekommen. Der Vater Philipp Nauenberg (1842 – 1906) war Teilhaber der renommierten Großhandelsfirma „Nauenberg & Riess“  für „Sammet- und Seidenwaren“ mit zwei Geschäftshäusern in der nur wenige Schritte vom Alexanderplatz entfernten Klosterstraße.

Die Mutter Sophie Nauenberg geb. Crohn (1848 – 1918) wurde wie alle 11 Kinder ihres Vaters  Samuel Abraham Crohn als Kind zu Verwandten nach Berlin gegeben; hier sollten sie eine bessere Schulausbildung genießen, als dies in dem Flecken Czarnikau möglich war. „Weltbürger muss man sein!“ lautete der Leitsatz Samuel Crohns, den er seinen Kindern mit auf den Weg gab, wie Margarete Eloessers Cousin Paul Crohn in seinen Erinnerungen[2] festhält. Paul Crohn zeichnet ein sehr lebendiges Bild vom Elternhaus seiner Cousine, in dem die „schöne und bedeutsame“ Mutter die entscheidende Rolle spielte: „Sophie konnte ein Haus machen und machte ‚ein Haus’. Ein Haus voller Jugend, Kunst, Wissenschaft & Gastfreunden. Kam man nach Berlin, bei Sophie stand irgendein Gastzimmer, zumindest eine Chaiselongue frei. Man war einfach da. Die Kinder brachten Freunde mit, die Freunde ihre Freunde. Was es kostet, darüber machte sich Sophie niemals Kopfschmerzen… Es war keine Verschwendung, keine Prachtentfaltung, kein Protzentum in alledem. Aber die Czarnikower waren nun einmal ‚Weltbürger’.“

Margarete war das zweitjüngste von mehreren Kindern; eine romantische Atelierphotographie zusammen mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Ernst, heute im Besitz der in São Paulo lebenden Enkelin Irene Freudenheim, bildet das einzige Andenken an ihre Kindheit. Nach dem Besuch des städtischen Sophien-Lyzeums, einer 1876 gegründeten „höheren Schule für Mädchen“ in der Weinmeisterstraße, absolvierte Margarete Eloesser, so der eingangs erwähnte Lebenslauf, „noch weitere Ausbildungen“. Welche Ausbildungen das waren, kann man nur mutmaßen, möglicherweise besuchte sie eine Sprachenschule, da der Lebenslauf weiter berichtet, sie sei in der englischen, französischen und italienischen Sprache versiert.

Die Erinnerung an die in der Gegend um den Alexanderplatz verbrachte Kindheit, jenes Platzes, an dem sich die sehr verschiedenen Berliner Welten berührten, schwang gewiss mit, als Margarete Eloesser sehr viel später, als alles in ihrer Welt zur Gefahr geworden war, einer Freundin zum Abschied in die Emigration auf eine kleine Mappe[3] mit Altberliner Ansichten den Wunsch schrieb: „Vergiss Deine Heimatstadt nicht und sei stolz auf sie“.

 

Ehe mit Arthur Eloesser, Freundeskreis – Ludwig Frank

1903 heiratete Margarete Nauenberg den Theater- und Literaturkritiker Arthur Eloesser. Auch Arthur Eloesser war von Geburt Berliner, er wurde 1870 in der weniger vornehmen Prenzlauer Straße, etwas östlich des Alexanderplatzes, geboren. Die Familien Nauenberg und Eloesser waren wohl auch aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen gut miteinander bekannt; der Familienüberlieferung zufolge hatte Margarete bereits als kleines Mädchen dem jugendlichen Arthur geschworen, sie werde ihn eines Tages heiraten. Als Redakteur der Vossischen Zeitung und Lektor für den S. Fischer Verlag zählte der dreiunddreißigjährige Arthur Eloesser nach der Jahrhundertwende bereits zu den tonangebenden Kritikern Berlins. Das junge Ehepaar wohnte zunächst in der Bamberger Straße 45 in Schöneberg, dort werden 1905 der Sohn Max und 1907 die Tochter Elisabeth geboren. 1908 bezieht die Familie eine repräsentative Wohnung in der Dahlmannstraße 29 in Charlottenburg, die auch zu einem Treffpunkt für Schauspieler, Schriftsteller und Politiker wird.

Zum engeren Freundeskreis der Familie zählen zum einen die alten Studienfreunde Arthur Eloessers, Max Osborn und Monty Jacobs und deren Familien; auch Oscar Bie, Herausgeber der Neuen Rundschau, sowie Siegfried Ochs, der Leiter des Berliner Philharmonischen Chors. Enge Beziehungen bestanden zu Klara Pick (geb. 1874) sowie zu Richard und Änne Grasshoff und deren Kindern. Eine erhaltene Photographie zeigt Margarete Eloesser am Strand von Arendsee, dem traditionellen Ferienort der Familie, im heiteren Kreis neben den Schauspielerinnen Ilka Grüning und Lucie Höflich. Der große Wiener Schauspieler Josef Kainz war bis zu seinem frühen Tod 1910 ein guter Freund, gemeinsame Reisen wurden geplant, wie erhalten gebliebene Briefe[4] von Kainz an Arthur Eloesser bezeugen; der „schwierige“ Freund Hans Pfitzner widmet in seiner Berliner Zeit Margarete Eloesser eine Liedkomposition.

Kann über die Rolle Margarete Eloessers in diesen Freundeskreisen wohl schwerlich Näheres gesagt werden, so bildet die persönliche Freundschaft mit dem badischen Sozialdemokraten und Reichstagsabgeordneten Ludwig Frank eine erhellende Ausnahme. Ludwig Frank zählte zum Reformflügel der SPD, dessen Ziel darin lag, entgegen der offiziellen Parteilinie, die auf den „großen Kladderadatsch“ von Zusammenbruch und Revolution setzte, auch mit bürgerlichen Parteien zu koalieren, um so das Parlament und die Demokratie in Deutschland zu stärken. Frank meldete sich im August 1914 als Freiwilliger zum Kriegsdienst, bereits am 3. September 1914 ist er an der Westfront gefallen. Hedwig Wachenheim veröffentlichte 1924 in einem Gedenkbuch[5] drei Briefe Ludwig Franks an Margarete Eloesser. Der letzte Brief vom 29. Juni 1914, in Mannheim geschrieben, beginnt mit der Entschuldigung, die erkrankte Freundin vernachlässigt zu haben: „Ihre Bleistiftstriche haben auf mich wie Flammenschrift gewirkt und, wie Sie sehen, mein Gewissen geweckt. Ich habe gar nicht an die Möglichkeit gedacht, dass Sie so lange krank sein könnten. Sie tun mir sehr, sehr leid, und ich wünsche Ihnen, dass Sie sehr bald Berlin verlassen dürfen: dann wird Ihre Stimmung und alles andere bald wieder gut werden.“ Frank berichtet weiter, dass er „vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht“ in Ministerien und mit der Partei vollauf zu tun habe, um dann noch einmal seiner tiefen Unzufriedenheit mit der Uentschlossenheit der Sozialdemokratie Ausdruck zu verleihen: „Die deutschen Arbeiter könnten das Gesicht des Reiches verändern, wenn sie wüssten, welche Macht sie besitzen, und wenn sie nicht, wie leider Gottes alle Deutschen, dogmatische Scheuleder trügen.“

Die Briefe Margarete Eloessers an Ludwig Frank sind heute unauffindbar, Franks Nachlass ist nur in Teilen erhalten geblieben. Das Frontispiz in Hedwig Wachenheims Gedenkbuch vermerkt unter der abgebildeten Frank-Büste von Carl Ebbinghaus: „Im Besitz von Frau Grete Eloesser“, ein weiterer Hinweis auf die enge Freundschaft zwischen dem sozialdemokratischen Politiker und seiner bürgerlichen Freundin in Berlin, die wohl selbst den Auftrag für die Gestaltung der Büste gegeben hat.

 

Märchenstücke für Kinder

Zumindest über die Aufführungen von zwei Kindertheaterstücken Margarete Eloessers gibt es Nachrichten und Dokumente. 1991 berichtet Richard Heinz Grasshoff, ein Sohn von Richard und Änne Grasshoff, in einen Brief an Michael Eloesser von seiner Mitwirkung bei der Aufführung von „Teufelchens Großmutter“ im Deutschen Künstlertheater in der Nürnberger Straße. Wie Richard Heinz Grasshoff (geb. 1911) sich erinnert, fand die Aufführung wohl 1917 statt. Da es keine Einträge in den Bühnenjahrbüchern gibt und bislang keine Zeitungsberichte aufgefunden wurden, muss man annehmen, dass es sich bei der Aufführung um ein oder zwei nachmittägliche Sondervorstellungen für Kinder handelte. Dass das Stück am renommierten Deutschen Künstlertheater aufgeführt wurde, ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass Arthur Eloesser seit 1913 Chefdramaturg am Lessingtheater war, das mit dem 1911 gegründeten Künstlertheater in der Nürnberger Straße ökonomisch und organisatorisch eine Einheit bildete. Eine handschriftliche Abschrift der Eröffnungsszene aus „Teufelchens Großmutter“ ist erhalten geblieben: Der verwöhnte Lieblingsenkel der Teufelsgroßmutter darf anlässlich seines zehnten Geburtstags im grell lackierten Galakostüm erstmals die Erde heimsuchen, um das dortige „Menschenpack“ nach Kräften zu traktieren…

Über die Inszenierung des zweiten Stücks mit dem Titel „Blumenmärchen“ am 25. Juli 1925 geben einige Besprechungen in der Tagespresse Auskunft. Die Aufführung fand statt auf der Freilichtbühne des Volksparks Jungfernheide im Norden Charlottenburgs. Ausführlich berichtete die Berliner Börsenzeitung vom 27. Juli 1925: „Über zweitausend Jungens und Mädels des ‚Ferienheims Jungfernheide’ sitzen auf den Bänken, die in weitem Bogen die reizvolle Naturbühne umrahmen. Sie sitzen lärmend, schwatzend, erwartungsvoll… es wird Theater gespielt. Ein dankbareres Premierenpublikum konnte sich Margarete Eloesser, die Verfasserin des ‚Blumenmärchen-‘Tanzspiels also, nicht wünschen… Ein leicht getuschtes Gelegenheitsspiel, das zum Teil auch von Gelegenheitsspielern aufgeführt wurde – Einzug des Frühlings und Beglückung des dazu gehörigen, liebenden Paares: Prinz und Prinzessin.“ Die Musikeinlagen komponierte Ernst Raden, Regie führte Ernst Laskowski, Hela Holtfreter arrangierte die Tanzeinlagen, zwei Schauspielerinnen fanden namentliche Erwähnung: Irma Kögel und Irma Klein.[6]

 

1933 bis zum Tod Arthur Eloessers 1938

Sporadisch veröffentlichte die Vossische Zeitung von 1926 bis 1932 Gedichte Margarete Eloessers. Im März 1938 druckte die Jüdische Rundschau das Gedicht „Flehen“, das dem Andenken des am 14. Februar desselben Jahres verstorbenen Ehemanns gewidmet ist. Andere, in Zeitschriften publizierte Gedichte, konnten bislang leider noch nicht gefunden werden. Das am 14. Januar 1932 in der Vossischen Zeitung publizierte Gedicht „Abschied“ wurde von dem Komponisten Paul Frankfurther vertont. Dessen ohne Jahresangabe in Berlin-Schöneberg publizierte „10 Lieder für Singstimme mit Begleitung des Klaviers“ stellen das Gedicht der unbekannten Margarete Eloesser neben die Namen  von Richard Beer-Hofmann, Rainer Maria Rilke und Hermann Hesse.

Im Dezember 1932 beziehen Arthur und Margarete Eloesser eine kleinere Wohnung am Lietzenseeufer 1 in Charlottenburg. Der Wohnungswechsel hat seinen Grund wohl hauptsächlich im Publikationsverbot, dem Arthur Eloesser nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten unterliegt, mit der Folge schwindender Einnahmequellen. Arthur Eloesser zählt im Herbst 1933 zu den Mitbegründern des „Kulturbunds deutscher Juden“, für den er fortan auch publizistisch als Theaterkritiker, Essayist und Vortragender tätig ist. Offensichtlich planen Margarete und Arthur Eloesser nicht ihre Emigration. Arthur Eloessers Engagement im Kulturbund deutscher Juden folgt der Devise: „Wir ergeben uns nicht.“[7] Im Frühjahr 1934 reist das Ehepaar gemeinsam[8] für einige Wochen nach Palästina, wohin bereits 1933 der Sohn Max emigriert war. Außer Arthur Eloessers ausführlichem, in der Jüdischen Rundschau publizierten Reisebericht, in dem er die jüdische Jugend zur Auswanderung nach Palästina aufruft, existieren keine Dokumente zu dieser Reise. Die Tochter Elisabeth konnte zusammen mit ihrer kleinen Familie 1937 nach Uruguay emigrieren.

Der plötzliche Tod Arthur Eloessers, der sich nach einer Lungenoperation auf dem Weg der Besserung befand, bildet eine tiefe Zäsur. „Ich bin heute noch betäubt wie am I. Tag und glaube, daß ich nie das Schreckliche verwinden werde. – Er war voller Pläne und wollte gesund werden, atmen und arbeiten,“ heißt es in einem Brief [9] Margarete Eloessers vom 24. März 1938 an die befreundete niederländische Schriftstellerin Topp Naeff. An die Tochter Elisabeth berichtet sie: „Die Trauer um A. E., um Deinen lieben alten Herrn, ist so allgemein, dass man staunend davor steht; die Halle im Crematorium war überfüllt, viele standen, es war nicht alles, aber vieles da, was mit ihm gearbeitet, wer ihm irgendwie nah gestanden hat…“ Robert Weltsch, als Chefredakteur der Jüdischen Rundschau seit 1933 mit Arthur Eloesser befreundet, berichtete 1970 in einem Gedenkartikel noch einmal von der Trauerfeier: „Es war eine jener herzbrechenden Gelegenheiten, bei der sich die Reste des noch in Berlin befindlichen, geistig und literarisch interessierten jüdischen Publikums versammelt hatten.“ [10]

 

„Ich weiß ja nicht, was mir und damit zurückwirkend auch Euch auferlegt sein wird.“

1938 bis zur Deportation am 25. Januar 1942

Nach dem Tod ihres Mannes versuchte Margarete Eloesser die Wohnung am Lietzensee durch Untervermietungen halten zu können; wie prekär ihre Lage geworden war, beschreibt sie in dem bereits zitierten Brief an Top Naeff: „In welcher Misere ich zurückgeblieben bin wird Dir Jet[11] gesagt haben; ich habe jetzt den größten Teil der Wohnung vermietet und will sehen, ob es so geht; alles ist ein Versuch. Ich weiß noch nicht ob und wie ich existieren kann.“ An die Tochter Elisabeth schreibt sie am 21. April 1938: „So entsetzlich schwer es mir wird, Euch jetzt nicht bei mir zu haben, … so froh bin ich doch, dass das Kind [die Enkelin Irene] unter ‚seinesgleichen’ und kein Paria ist…“ Ihre eigene Emmigration fasste Margarete Eloesser wohl erst nach dem Novemberpogrom 1938 ins Auge.  Seit dem 1. April 1939 ist sie unter der Adresse Marburger Straße 9a, erster Stock in Charlottenburg gemeldet. Ob es sich bei diesem Wohnungswechsel um die Zwangseinweisung in ein „Judenhaus“ handelte, konnte noch nicht eruiert werden. Den alten Freunden Max Osborn, Monty Jacobs und Julius Bab gelingt noch vor Kriegsbeginn im September 1939 die Flucht aus Deutschland. Zu den verbliebenen Freunden zählen der Schauspieler und Leiter des Kulturbundtheaters Fritz Wisten (1890 – 1962), der in einer „privilegierten Mischehe“ einen gewissen Schutz genießt, die Schriftstellerin Herta von Gebhardt (1896 – 1978) und die Malerin Frida Bradt geb. Simion (1883 – 1943). Ständigen Kontakt hat Margarete Eloesser zu ihrer Schwägerin Fanny Levy, Arthur Eloessers 1869 geborener Schwester, die am 28. Juli 1942 über Theresienstadt nach Treblinka deportiert werden sollte.

Nach Kriegsbeginn werden die Briefe an die Tochter Elisabeth in Montevideo immer verzweifelter, so heißt es in dem Brief vom 24. November 1939: „Ich bin in großer Sorge, wenn ich nicht weiß, dass Ihr gesund seid, meine Geliebten. Was macht meine… große Enkelin? Denkt sie noch an die arme Oma, die solche Sehnsucht hat, dass sie nur ganz dünne graue Haare hat? (leider wahr)… Ach Liesel, wenn ich doch nur zu Euch kann, bevor ich eine alte Vogelscheuche bin!“

An den in die Niederlande emigrierten, äußerst hilfsbereiten nahen Verwandten Erich Rothenberg[12], der die Briefe Margarete Eloessers an ihre Tochter in Uruguay weiterleitet und immer wieder dringend benötigte Lebensmittelpakete nach Berlin schicken kann, berichtet sie am 24. Februar 1940 über die dramatische Verschlechterung ihrer Lage: „…meine Rente, die vorher 117 RM betrug (monatlich), ist jetzt (gestern) um 2/3 reduziert worden, d. h. auf 44,- RM abgesetzt, das langt ja nun nicht mehr zum Leben und Sterben. Aber: ich bin vorläufig nicht verzweifelt, sondern habe Liesel mitgeteilt, dass mein Fall immer dringlicher wird, wenn sie es nur ohne Kaution[13] schaffen, das macht mir die größte Sorge. Mein Gott, gibt es denn in der ganzen Welt nicht ein paar Menschen, die 100,- Dollar an die Regierung von Montevideo auf zwei Jahre gegen 290,- festlegen? So viele haben das erreicht, warum ich nicht?“

Am 28. Oktober 1941 – fünf Tage nach Bekanntgabe des Ausreiseverbots – steht im letzten Brief, der die Tochter erreichen sollte, zu lesen: „Meine geliebten guten Kinder, seit dem 3. 10. bin ich ohne Nachrichten von Euch… aber der Lebenswille und die Liebe zu Euch halten mich immer wieder aufrecht und lassen mich hoffen, ich möchte nicht kleinbeigeben! Ich möchte Vaters würdig sein… Wie gesagt, ich hoffe auf Gottes Hilfe, baue auf Euch und verlange Eure höchsten Anstrengungen. Ihr sollt Euch keine Vorwürfe machen dürfen, dann und nur dann könnt Ihr alles tragen. Ihr müsst für Euer Kind und in unserem Andenken, auch das meine, (wenn unsere Zukunftshoffnungen fehlschlagen sollten) leben. Ich weiß ja nicht, was mir und damit zurückwirkend auch Euch auferlegt sein wird, ich weiß, dass ich alles versucht habe, zu Euch zu gelangen, dass leider von der anderen Seite nicht alles getan wurde, dass es viel Versagen gab…“

Der Fußweg zwischen der Marburger Straße und dem Viktoria-Luise-Platz dauert kaum eine Viertelstunde. Im Haus Nr. 9 des schönen Platzes wohnten die alten Freunde Richard und Änne Grasshoff, selbst gefährdet aufgrund Änne Grasshoffs jüdischer Herkunft. Der Sohn Richard Heinz, ebenfalls verheiratet mit einer Jüdin, die mit gefälschten Papieren überleben konnte, berichtet 1991 in seinen Briefen an die Enkel, dass Margarete Eloesser seine Eltern oft besucht habe. Auch am Abend vor ihrer Deportation war sie bei ihnen zu Gast. „Das letzte Zusammentreffen war zwischen Grete, meinen Eltern, mir und meiner Frau am Abend bevor Grete 1942 nach Theresienstadt transportiert wurde.“ Alle waren des Glaubens Theresienstadt sei „eine Art jüdisches Altersheim, wo man notdürftig existieren konnte.“ – „Wir aßen zusammen Abendbrot… und ich brachte danach im Dunkeln Grete zu ihrer Wohnung. Wir sprachen meist über die Vergangenheit, um nicht dauernd von der Gegenwart bedrückt zu sein.“

Das Ziel des Deportationszuges, der am 25. Januar 1942 den Bahnhof Berlin-Grunewald verließ, hieß nicht Theresienstadt, sondern Riga. Die Fahrt dauerte zwei bis drei Tage. Historiker haben das Schicksal der Deportierten nach der Ankunft des Zuges auf dem Rangierbahnhof Skirotawa, etwa acht Kilometer nordöstlich von Riga, rekonstruiert. Wohl nur wenige Stunden nach der Ankunft wurde Margarete Eloesser zusammen mit den vielen anderen Deportierten in einem nahegelegenen Wäldchen bei Rumbula erschossen. Es gibt keine Überlebenden und keine Dokumente. Die Toten wurden in Massengräbern verscharrt.

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Öffentlich zugängliche Briefe und Karten Margarete Eloessers befinden sich in der Staatsbibliothek Berlin (Gerhart Hauptmann), der Akademie der Künste Berlin (Julius Bab und Fritz Wisten) sowie im Literatuur Museum Den Haag (Top Naeff).  Der Brief an Top Naeff enthält den Hinweis auf eine Korrespondenz mit Martha Bosman-Leopold  (Niederlande), der Margarete Gedichte zur Übersetzung ins Niederländische zugesandt hat. Hinweise auf diese wie auch auf andere Korrespondenzen sowie auf Manuskripte und Veröffentlichungen werden dankbar entgegengenommen.

Leicht verändert ist dieser Text auch hier zugänglich: https://www.volksbund.de/fileadmin/redaktion/BereichPartner/Dt Riga Komitee/Materialien/Veröffentlichung.pdf

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[1] Im Besitz der Enkelin Irene G. Freudenheim, São Paulo. Die zitierten Briefe Margarete Eloessers  an die Tochter Elisabeth Gebhardt, der Brief Fanny Levys an Edith Munter, die Mitteilungen von Richard Heinz Grasshoff sowie weitere Dokumente und Photographien befinden sich ebenfalls im Besitz von Irene G. Freudenheim.

[2] Paul Crohn (1888 – 1945) schrieb die Familienerinnerungen 1942 im Exil in Shanghai fortlaufend als Tagebuch. Die Transkription seiner Tagebücher wurde von der Moses Mendeslssohn Akademie in Halberstadt im Internet publiziert: www.moses-mendelssohn-akademie.de/familie-crohn; die Zitate stehen im Tagebuch I, Seite 21f. – Paul Crohns Vater, Moritz Crohn (1858 – 1920) kam nach Berlin, als seine Schwester Sophie bereits mit Philipp Nauenberg verheiratet war. Er wirkte als Arzt und überzeugter Sozialdemokrat in Halberstadt; seinem Sohn Paul, Kaufmann in Magdeburg und wie der Vater engagierter Sozialdemokrat, gelang 1939 noch vor Kriegsausbruch die Flucht nach Shanghai.

[3] Ein antiquarischer Fund in Frankfurt am Main. Die Widmung nennt von der Empfängerin  leider nur den Vornamen Dora.

[4] Im Besitz des Enkels Michael Eloesser, Frankfurt am Main.

[5] Ludwig Frank. Aufsätze, Reden und Briefe. Ausgewählt und eingeleitet von Hedwig Wachenheim. Berlin, Verlag für Sozialwissenschaft [1924].

[6] Einen ausführlichen Bericht Max Osborns veröffentlichte am 27. Juli 1925 auch die Vossische Zeitung. Osborn weist darauf hin, dass das „Blumenmärchen“ bereits Jahre zuvor im Künstlertheater in der Nürnberger Straße aufgeführt worden sei.

[7] Vgl. Arthur Eloesser: Jakob Julius David. Zum dreißigsten Todestag. In: Jüdische Rundschau 41. Jg. Nr. 92, 17. XI. 1936 S. 7.

[8] Ob Margarete Eloesser ihren Mann auf dieser Reise begleitet hat, ist durch Briefe an die Tochter Elisabeth und Familienerinnerungen nicht belegt. Robert Weltsch schreibt in seinem Gedenkartikel zum 100. Geburtstag  Arthur Eloessers: „An die… erwähnte Palästina-Reise im Jahre 1934 erinnere ich mich gut, da ich damals mit dem Ehepaar Eloesser im Lande war.“ (MB – Mitteilungsblatt der Irgun in Tel Aviv Nr. 14, 3. April 1970)

[9] Der Brief an Topp Naeff befindet sich im Archiv des Literatuur Museums in Den Haag, Sammlung Top Naeff.

[10] Loc. cit. Anm. 7

[11] Jet: Jet Robbers, die Witwe des befreundeten niederländischen Romanciers Herman Robbers (1868 – 1937).

[12] Erich Abraham Rothenbergs Frau Lotte Rothenberg war väterlicherseits mit Margarete Eloesser verwandt; sie war die Tochter von Max Karl Cohn und dessen Ehefrau Gertrud geb. Nauenberg (Mitteilung von Irene G. Freudenheim). Erich und Lotte Rothenberg konnten mit ihren Kindern noch vor dem deutschen Überfall auf die Niederlande am 10. Mai 1940 nach England entkommen.

[13] Die Höhe der Kaution betrug die für die damaligen Verhältnisse immense Summe von 2000 Dollar.

    Margarete Eloesser um 1940

 

 

 

Abschied

Ich ging aus deiner Türe
Stand auf der Straße stumm.
Mir war, als ob ich führe
Im Kreise, um und um.

Die Häuser sah ich gleiten,
Ich selbst tat keinen Schritt.
Ich ging wie ohne Schreiten
Und nahm nur dich nicht mit!!!

 

 

         Maschinenschriftlicher Lebenslauf vom 24. Juni 1939

Margarete und Ernst Nauenburg – Atelieraufnahme um 1895

Arthur und Margarete Eloesser und eine unbekannte Dame auf einem Steg am Meer (20er Jahre)

Ludwig Frank – Portraitbüste im Besitz von Margarete Eloesser

Vossische Zeitung, 25. November 1928

Vossische Zeitung, 14. Januar 1932

Aus:
10 Lieder für Singstimme mit Begleitung des Klaviers von Paul Frankfurther

Inhalt:
‚Königskind‘ von Hermann Hesse; ‚Sie blasen zum Abmarsch‘ von Paul Heyse; ‚Abschied‘ von Margarete Eloesser; ‚Die drei Zigeuner‘ von Nicolaus Lenau; ‚Frühlingsnacht‘ von Hermann Hesse; ‚Schlaflied fu¨r Mirjam‘ von Richard Beer-Hofmann; ‚Lied‘ von Rainer Maria Rilke; ‚Schmied Schmerz‘ von Otto Julius Bierbaum; ‚Die Einsame‘ aus der „Chinesischen Flöte“ von Wang-Sang Yu; ‚Abendlied‘ von Matthias Claudius.

Arthur und Margarete Eloesser mit der Tochter Elisabeth und der Enkelin Irene 1937. Abschiedsfoto vor der Emigration von Elisabeth, Hermann P. und Irene Gebhardt nach Uruguay

Stolperstein für Margarete Eloesser Lietzenseeufer 1

Postkarte von Margarete Eloesser an Erich Rothenberg